Frau des Monats Dezember 2020: Gabriele Tergit
Gabriele Tergit
Journalistin, Gerichtsreporterin, Schriftstellerin
Geboren am 04.03.1894 in Berlin
Gestorben am 25.07.1982 in London
Gabriele Tergit wurde als Elise Hirschmann am 04. März 1894 in Berlin Moabit geboren. Als Studentin legte sie sich den Künstlerinnennamen Gabriele Tergit zu – Tergit ist ein Anagramm des Wortes Gitter. Zwischenzeitlich veröffentlichte sie auch unter dem Pseudonym Christian Thomasius, weil sich erfahrungsgemäß Beiträge von Journalisten besser verkaufen ließen.
Gabriele Tergit stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Fabrikant*innenfamilie. In jenen Kreisen war es nicht sonderlich schicklich, dass ein „junges Mädchen aus gutem Hause“ Reportagen für die Zeitung schreibt. Im Jahr 1915, während des ersten Weltkriegs, durften Frauen nicht am politischen Leben teilhaben und bis 1919 auch nicht wählen.
Dennoch schrieb Gabriele Tergit bereits mit 19 Jahren ihren ersten Beitrag für das „Berliner Tageblatt“. Ihr Honorar betrug 50 Mark, diese wurden ihr auf dem Schulkorridor aus der Tasche gezogen.
Nachdem sie die Soziale Frauenschule von Dr. Alice Salomon besucht hatte, schloss sie, ebenfalls gegen den Willen ihres Vaters, das Studium der deutschen Geschichte und Philosophie ab und promovierte 1923.
1924 erhielt sie eine Festanstellung beim Berliner Tageblatt als Gerichtsreporterin. Ihre Reportagen handelten von jenen Leuten, die sonst für niemanden so richtig interessant sind, sie schrieb über die „Kleinen Leute“, über Dienstmädchen, Landstreicher, Prostituierte, und über andere sog. Tabuthemen.
Ihr Blick richtete sich dabei nicht verurteilend auf die Täter*innen, sondern auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge jener Zeit, z.B. die Unruhen der Weimarer Republik und das Aufkommen des Nationalsozialismus. Sie machte gesellschaftliche Missstände dafür verantwortlich, dass Menschen oft zu Verbrecher*innen wurden.
1928 ging sie eine Ehe mit dem Architekten Heinz Reifenberg ein und bekam einen Sohn.
Tergit schrieb offen ihre Meinung, trotz gesellschaftlicher Zwänge und empörter Reaktionen der Leser*innen und Zeitungsverlage für ihre linksliberale Einstellung. Bis 1933 arbeitete sie freiberuflich für die Zeitschrift Die Weltbühne, die in der Weimarer Republik als wichtiges Forum der radikaldemokratischen bürgerlichen Linken galt. Der damalige Chefredakteur Carl von Ossietzky wurde 1933 nach der Auflösung der Weltbühne von den Nationalsozialisten verhaftet und so heftig gefoltert, dass er 1938 an den Folgen starb.
Die Weimarer Republik war eine Zeit der Umbrüche, auf Grund der schwierigen ökonomischen Situation nach dem Ersten Weltkrieg mussten viele Frauen mitarbeiten, um für den Unterhalt ihrer Familien zu sorgen. So ergriffen sie auch Berufe, die ihnen vorher verwehrt worden waren. Auch Gabriele Tergit kämpfte mit aller Kraft gegen die Männervorherrschaft in ihrem Berufsfeld an. Ihrer Situation als Frau in einer Männerwelt war sie sich durchaus bewusst. Sie entsprach auch nicht dem damaligen Frauenbild. Sie war nicht angepasst, sondern wurde eher als „Neinsagerin“ beschrieben, mit einer ruppigen „Berliner Schnauze“.
„Moabit ist ein Ort der Männer. Als Subjekt und Objekt spielen Frauen eine sehr geringe Rolle. Sie sind weder Betrüger, noch Einbrecher, noch Hehler. Weder bestechen sie, noch vergehen sie sich im Amt, sie widerstehen nicht der Staatsgewalt, noch treiben sie Landesverrat. Ihr Gebiet ist das Ewige, die Liebe und der Klatsch. (…) Über allen sitzen Männer zu Gericht.“ (Tergit, Gabriele)
So handelten viele ihrer Reportagen auch von „Frauenthemen“. Unter anderem schrieb sie über Frauen, die von eigner Hand und illegal abgetrieben haben. Sie kritisierte den Paragraphen 218, der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellte, fand ihn unmenschlich, weil so viele Frauen bei einem misslungenen Abtreibungsversuch ihr Leben ließen. Stets schrieb sie für die Gerechtigkeit, mit einem sozialkritischen Blick fürs Detail. Sie war „nah an den Menschen“, hinterfragte ihre Probleme anstatt nach den nationalsozialistisch geprägten Moralauflagen jener Zeit zu denken und zu handeln.
Auch wenn sie sich selbst als „unpolitisch“ bezeichnete und der Frauenbewegung in einigen Aspekten kritisch gegenüberstand, sah sie die Ungerechtigkeit für Frauen in jener Zeit und machte in ihren Reportagen darauf aufmerksam. Als erste Frau schrieb sie über Frauen vor Gericht. Ihr Augenmerk galt auch den Akademikerinnen, die sich ständig unter ihren männlichen Kollegen und der „männlichen Arroganz“ behaupten müssen, den Sexarbeiterinnen, „Engelmacherinnen“, Frauen in Not, Frauen, die ihre Männer töteten. Ihre Artikel zeigten die unterschiedlichsten Aspekte vom Leben der Frauen aller Schichten und Gesinnungen in der Zeit zwischen den Kriegen. Sie war außerdem Anhängerin der Soroptimistinnen, eines Clubs berufstätiger Frauen.
Sie selbst nannte die Jahre zwischen 1925 und 1933 „die fetten Jahre“. 1931 erschien der gesellschaftskritische Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm.
Es geht um den Aufstieg und Fall des Neuköllner Volkssängers Georg Käsebier, der zuerst zum Star gemacht und nach nur einer Theatersaison im fallengelassen wurde. Zitat: Das Schlimme ist, dass diejenigen die Macht haben, die die Macht suchen.
Tergits zweiter Roman Effingers schildert das Schicksal einer jüdischen Familie in Berlin, fand allerdings zur Zeit seines Erscheinens 1951 wenig Resonanz – im Gegensatz zur Neuauflage von 2019.
Aufgrund ihrer kritischen Berichte über die völkische Bewegung und die Nationalsozialisten fiel Tergit in Ungnade. Im März 1933 versuchten SA-Männer die Wohnung ihrer Familie in Berlin-Tiergarten zu überfallen, konnten aber abgewehrt werden. Mit ihrem Sohn floh sie zunächst nach Tschechien, dann folgte sie ihrem Mann nach Palästina. 1938 siedelte die Familie nach London über. Dort war Gabriele Tergit von 1957 bis 1981 Sekretärin des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.
1948 kehrte sie in ihr geliebtes Berlin zurück, das sie folgendermaßen beschrieb: „Bewegt und bereit, heißen Herzens, aufgetanen Geistes, zu lächeln, zu schreiten und diese Luft zu atmen aus Freiheit, Frechheit und Benzin.“
Sie versuchte, ihre Tätigkeit als Gerichtsreporterin in Moabit wieder aufzunehmen. Nach einem absurden Prozess um den Verbleib eines Goldrings konstatierte sie bitter, nach den ganzen Grausamkeiten des Nazi-Regimes: „Kann man eine Zivilisation so neu anfangen? Indem man so weiter macht, als wäre nichts geschehen?“
1977 wurde Gabriele Tergit wiederentdeckt und ihre Romane wurden neu aufgelegt.
Ein Gelände im Berliner Bezirk Mitte wurde 1998 ihr zu Ehren in Gabriele-Tergit-Promenade benannt.
„Etwas Seltenes überhaupt“ hatte ein Freund und geachteter Kollege Rudolf Olden sie genannt. Sie war eine mutige Person, die mit ihrem Blick als Frau über die Ungerechtigkeiten jener Gesellschaft schrieb.
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